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Wie hast du's mit der Religion, Matthias?

Claudius und die Gretchenfrage

Erschienen am 15.09.2014
9,95 €
(inkl. MwSt.)

Nachfragen

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783868274738
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 20.5 x 13.7 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Matthias Claudius stellt in seinen Werken beharrlich die uns allen bekannte Gretchenfrage. Auch 200 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage so aktuell wie nie zuvor. Matthias Claudius kommt in seinem Werk zu der Erkenntnis: Denken und Glauben müsse nicht im Streit liegen und Frömmigkeit gehört mit Lebensfreude zusammen. In Briefen an einen kritischen Zeitgenossen nähert sich der Autor Georg Gremels diesem Dichter und kommt seiner Person und seinem Werk auf die Spur.

Autorenportrait

Georg Gremels studierte Chemie und Theologie. Er arbeitete als Vikar in Kolumbien, als Pastor bei Eschwege und als Volksmissionar im Ev.-Luth. Missionswerk (ELM). 1992 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert und war danach mit leitender Verantwortung in der Deutschlandarbeit des ELM engagiert. Seit 2013 verbringt er seinen Ruhestand in Hermannsburg.

Leseprobe

1. Brief Claudius und die Gretchenfrage Lieber Leon, danke für Deine Zeilen, die mir bestätigen, worüber wir auf meinem letzten Besuch bei Dir übereingekommen sind. Ich hatte Dir erzählt, dass mich Matthias Claudius als Dichter und Denker von Neuem fasziniert, ja, regelrecht ergriffen hat. Und dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als mich mit Dir darüber auszutauschen. Deine so kritischen wie förderlichen Nachfragen haben mich - wie Du weißt - schon immer inspiriert. Und Du hast meine ausgestreckte Hand ergriffen und eingeschlagen. Also in medias res - in die Mitte der Sachen - und damit zu den "Sämtlichen Werken des Wandsbecker Bothen"?. Ich hatte Dir von meiner Idee erzählt, das Werk dieses Mannes mit der berühmten Gretchenfrage zu entschlüsseln! Das findest Du kühn, ja, sogar frech: "Wie hast du's mit der Religion, Matthias?" Ausgerechnet mit Goethe Claudius näherkommen zu wollen! Nun schreibst Du, ob ich denn nicht wisse, dass die beiden sich nicht eben grün gewesen seien? Natürlich weiß ich das und habe mir die Mühe gemacht, in Goethes Faust nachzusehen. Die Frage gehört in die Liebesgeschichte Fausts und Margaretes. In ihrem von der Liebe zu Heinrich aufgewühlten Herzen singt sie am Spinnrad: "Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer."4 Danach trifft sie Faust und stellt ihm die berühmte Gretchenfrage (WGIII, 3415f): "Nun sag, wie hast du's mit der Religion? / Allein ich glaub' Du hältst nicht viel davon." Da hat sie ihre Frage schon selbst beantwortet, bevor Faust auch nur den Mund hätte aufmachen können! Wie naiv und doch zugleich wie ahnungsvoll ist Gretchen! Goethe legt ihr, diesem schlichten, gutgläubigen Mädchen, die Frage nach der Religion in den Mund. Ihrem Faust dagegen - hinter dem sich gewiss der Dichter selbst verbirgt - ist der Zugang zum Christentum schon längst verlorengegangen. Von Zweifeln geplagt, verbündet er sich mit den Mächten der Tiefe. Er kann auf den Pfaden der Tradition nicht mehr zu dem finden, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (WG III, 382f). Faust erklärt seiner Margarete daher mit vielen, klugen Worten seine Auffassung vom Göttlichen und endet (WG III, 3456f): "Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch." Schall und Rauch - sprichwörtlich ist das geworden - sind für Faust Namen, Begriffe und Dogmen der Kirche. Sie vernebeln ihm echte Gefühle und eine Ergriffenheit durchs Unsagbare. Doch seine gewaltigen Gedankenflüge können Gretchen nicht betören. Sie ahnt hellsichtig, dass es mit dem Glauben ihres Heinrichs nicht weit her sein kann, und stellt nüchtern fest (WGIII, 3466-3468): "Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen, / Steht aber doch immer schief darum; / Denn du hast kein Christentum." Welten trennen Gretchen und Faust in der Religion, obwohl sie einander lieben. Das gilt auch für seinen Dichter, der weit mehr vom klassischen Altertum, von dessen Göttern und Sagen, als von biblischen Geschichten bewegt wurde. Welten trennen daher auch Goethe und Claudius. Der Riss zwischen beiden entsteht aus ihrer Haltung zur Religion. Der eine sprengt im Sturm und Drang die Fesseln der vermeintlich überkommenen Christlichkeit, der andere bleibt der Religion der Väter treu. Leon, vergleiche doch nur den Anfang von Goethes Prometheus mit einer Strophe aus dem Abendlied von Claudius (WG I, 44): "Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst! / Und übe, Knaben gleich, / Der Disteln köpft, / An Eichen dich und Bergeshöh'n! / Musst mir meine Erde / Doch lassen steh'n, / Und meine Hütte, / Die du nicht gebaut, / Und meinen Herd, / Um dessen Glut / Du mich beneidest." Dagegen stelle ich eine Strophe aus Claudius' Abendlied (EG 482,4)5: "Wir stolze(n) Menschenkinder / Sind eitel arme Sünder, Und wissen gar nicht viel; Wir spinnen Luftgespinste, / Und suchen viele Künste, Und kommen weiter von dem Ziel." Welten liegen zwischen stolzer Selbstgewissheit des Prometheus und verzagter Selbstverfehlung des Abendliedes! Schon hier lässt sich ahnen

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